ZVEI-Show-Case Product Carbon Footprint (PCF) Control Cabinet
Mehrwert veranschaulichen
Digitales Typenschild, digitaler Zwilling, Verwaltungsschale: In Zusammenhang mit der smarten Fabrik fallen diese Begriffe immer wieder. Die meisten haben sie schon einmal gehört. Einige haben sich schon damit beschäftigt, für viele klingen sie noch recht abstrakt. Dabei sind die Möglichkeiten, die diese Konzepte eröffnen, enorm. Das will der ZVEI mit einem Show-Case namens PCF@Control Cabinet jetzt zeigen. SCHALTSCHRANKBAU und SPS-MAGAZIN werden die Anwendung in den nächsten Monaten näher begleiten und sprachen dazu eingangs mit Initiator Prof. Dr. Dieter Wegener, Sprecher des ZVEI-Führungskreises Industrie 4.0.
Der Führungskreis Industrie 4.0 im ZVEI wurde im Oktober 2013 ins Leben gerufen, um Konzepte für die intelligente Fabrik zu entwickeln. Zentraler Aspekt dabei ist es, die bisher völlig getrennt voneinander agierenden operativen Technologien (Englisch Operational Technology – OT), die die Maschinen und Anlagen eines Industriebetriebs steuern, mit der IT- und damit der Netzwerk-Ebene zu verschmelzen. Ultimatives Ziel: Jedes Industrie 4.0-kompatible Gerät – egal ob Sensor, SPS, Werkzeugmaschine oder ganze Fertigungsstraße – soll mit anderen Industrie-4.0-geeigneten Geräten kommunizieren können – und zwar unabhängig vom Hersteller. „Zu diesem Zweck haben wir das universale Konzept der Verwaltungsschale, auf Englisch Asset Administration Shell, ins Leben gerufen. Sie ist die datenbasierte Abbildung eines Assets aus der physischen Welt und organisiert die Interoperabilität zwischen OT und IT. Die Verwaltungsschale besteht aus unterschiedlichen Teilmodellen, über die beliebig viele Applikationen angeschlossen werden können“, erläutert Dieter Wegener. Da dies aber immer noch sehr theoretisch und abstrakt ist, ist es entscheidend, den Nutzen der Verwaltungsschale anhand eines konkreten Anwendungsfalls zu veranschaulichen.
Zwei miteinander verzahnte Anwendungsfälle
Jedes in der Industrie eingesetzte Gerät enthält ein Typenschild, das zumeist in Form eines Aufklebers oder Aufdrucks am Produkt angebracht ist und rudimentäre technische Daten bereitstellt. Weitergehende Geräteinformationen sind dann normalerweise einem Beipackzettel zu entnehmen. „Der Führungskreis Industrie 4.0 hatte die Idee, das analog vorhandene Typenschild durch ein digitales in Form eines QR- oder Data Matrix-Codes zu ersetzen. Über den Scan des digitalen Typenschilds mittels einer auf einem Smartphone oder Tablet installierten App wird der Anwender auf eine Webseite des Herstellers weitergeleitet, auf der alle relevanten Daten zu einem Produkt abgelegt sind“, so Wegener. Positiver Nebeneffekt: Die Digitalisierung der Informationen trägt zur Umweltverträglichkeit bei, da der Beipackzettel entfällt. Wegener, der gleichzeitig Head of External Cooperation bei Siemens ist, veranschaulicht dies anhand eines Beispiels: „Wir haben ein I/O-Schaltschrankmodul in unserem Portfolio, das unter anderem im Siemens-Werk Amberg gefertigt wird. Durch den Verzicht auf einen gedruckten Beipackzettel würden wir allein für dieses Produkt in diesem einen Werk jährlich 12,5 Tonnen Papier einsparen.“
Fungiert die Anwendung des digitalen Typenschilds gewissermaßen als Türöffner, so muss der „Raum“, der nun betreten wird, noch mit Leben gefüllt werden. Dies geschieht mit dem zweiten Anwendungsfall, nämlich der Bestimmung des CO2-Fußabdrucks (Englisch Product Carbon Footprint, PCF) eines Schaltschranks (Englisch Control Cabinet). Aber warum ausgerechnet ein Schaltschrank? Hierzu Wegener: „In einem Schaltschrank sind üblicherweise zahlreiche Komponenten unterschiedlicher Anbieter verbaut. Damit lässt sich geradezu idealtypisch eine herstellerübergreifende Interoperabilität demonstrieren.“ Inhaltlich hätte die CO2-Thematik nahegelegen, da sich die Industrie vor dem Hintergrund der ambitionierten Ziele des von der EU beschlossenen European Green Deal ohnehin intensiv damit auseinander setzt. Denn eine CO2-Bepreisung von Produkten sei heute bereits absehbar.
Die Verwaltungsschale eines jeden Assets, das in den Schaltschrank eingebaut wird sowie der Schaltschrank in seiner Gesamtheit, besteht nun aus den beiden Teilmodellen ‚digitales Typenschild‘ und ‚PCF-Wert‘.
Teilnehmer, Arbeitsgruppen und Vorgehensweise
Nach dem Kick-Off von PCF@Control Cabinet Ende Juni letzten Jahres fanden sich rasch 100 Teilnehmer aus rund 30 Unternehmen und Organisationen, die sowohl ihre Produkte als auch Expertise in den Show-Case einbringen. So werden Gehäuse, Lüfter, SPS, Frequenzumrichter, Reihenklemmen, Motorschutzschalter, bis hin zum Sensor allesamt von unterschiedlichen Herstellern geliefert. Gearbeitet wird in fünf Gruppen: Gruppe 1 fokussiert den eigentlichen Schaltschrank, die dort verbauten Komponenten sowie die konkrete Umsetzung des Demonstrators. Gruppe 2 behandelt das Thema Digitalisierung und beschäftigt sich vornehmlich mit der Verwaltungsschale und deren Teilmodellen. Um Security & Identity kümmert sich die 3. Arbeitsgruppe. „Dabei geht es um Identitätsprüfung, dass also die digital in der Verwaltungsschale beschriebenen Produkte tatsächlich den verbauten physischen Assets entsprechen und es sich hierbei nicht um Fälschungen handelt“, erklärt Dieter Wegener. Gruppe 4 hat die Nachhaltigkeit zum Thema und beleuchtet die Methoden, Datenmodelle und -qualität zur Ermittlung der PCF-Werte. Arbeitsgruppe 5 hat schließlich die relevanten Normen und Standardisierungen im Blick sowie die Interaktion mit existierenden Daten-Ökosystemen wie z.B. Catena-X, Gaia-X, Estainium.
Jeder Lieferant einer Schaltschrank-Komponente ist nun dafür verantwortlich, den PCF-Wert seines Produktes zu ermitteln. Wie komplex diese Aufgabe sein kann, erläutert Wegener anhand einer M8-Schraube: „Diese Schraube hat ein Eigengewicht von 15g. Wird sie in Frankreich gefertigt, beträgt ihr CO2-Wert 57g CO2-e, wird sie in China hergestellt, sind es hingegen 79g CO2-e. Dies hängt mit den unterschiedlichen Formen der Energiegewinnung in den Ländern zusammen.“ Grundsätzlich setzt sich der CO2-Wert eines Produktes aus den Bestandteilen Scope 1 – 3 zusammen. Dabei bilden Scope 1 und Scope 2 die direkten Emissionen im Werk des Herstellers sowie den Anteil an Energie ab, der bei der Fertigung des Produkts verbraucht wird. Scope 3 ist der Wert, der sich aus der Lieferkette der Einzelkomponenten errechnet, um das Produkt herzustellen. Diese Werte müssen zur Ermittlung des CO2-Fußabdrucks addiert werden. „Bei einer S7-1500-Steuerung von Siemens beispielsweise betragen Scope 1 und 2 zusammen lediglich rund 10 Prozent des gesamten CO2-Wertes. 90 Prozent entfallen auf Scope 3 und sind damit zunächst einmal intransparent. Die 10 Prozent können wir sehr zuverlässig ermitteln. Für den großen Rest sind wir auf die Angaben unserer Zulieferer angewiesen“, schildert Wegener die Herausforderung. Je nach technischer Komplexität der Komponente und Fertigungstiefe bei deren Hersteller kann dies mehr oder weniger Aufwand bedeuten. Der CO2-Fußabdruck des gesamten Schaltschranks errechnet sich dann aus der Addition aller PCF-Werte der Einzelkomponenten, aus denen er besteht.
Vorerst im Show-Case nicht berücksichtigt ist der CO2-Fußabdruck des Schaltschranks, der während seines Betriebs entsteht. Er soll aber ggf. zu einem zukünftigen Zeitpunkt mittels eines Use-Cases exemplarisch berechnet werden.
Ausblick: ungeahnte Möglichkeiten
Sollte die EU eine CO2-Bepreisung für Industriekomponenten einführen, erhielte der Show-Case einen beträchtlichen wirtschaftlichen und damit wettbewerbsrelevanten Aspekt. „Dann wird es so sein, dass z.B. Systemintegratoren im Schaltschrankbau bei vergleichbaren Produkten diejenigen wählen werden, die einen möglichst niedrigen PCF-Wert haben“, ist sich Dieter Wegener sicher. So werde PCF@Control Cabinet auch über die bestehende Schaltschrank-Community hinaus eine Außenwirkung für andere Branchen erzielen. Funktioniere der Show-Case für einen Schaltschrank, so ließe er sich auf jeden anderen Anwendungsfall übertragen. „Topologisch ist z.B. ein Auto identisch mit einem Schaltschrank: Auch hier handelt es sich um eine Vielzahl an Komponenten verschiedener Hersteller, die zu einem System zusammenwachsen“, sagt der Sprecher des Führungskreises.
Gleiches gelte für die Konzepte digitales Typenschild und darüber hinaus den digitalen Produktpass (häufig auch digitaler Zwilling genannt), der das jeweilige Produkt in allen Facetten beschreibt und über seinen gesamten Lebenszyklus begleitet. „Mit dem digitalen Produktpass können Hersteller ihren Kunden Informationen zur Verfügung stellen, die sie sich ansonsten mit deutlichem Mehraufwand beschaffen müssten. Denkbar wären beispielsweise Betriebsanleitungen, Service- und Instandhaltungspläne, Firmware-Updates oder Angebote über Nachfolgeprodukte. Meines Erachtens ist unser Show-Case die Killer-Applikation, mit der wir es schaffen werden, den Mehrwert der Digitalisierung zu veranschaulichen. Ein Facharbeiter in der Fabrikebene beschäftigt sich in der Regel nur sehr eingeschränkt mit der Digitalisierung in seinem Betrieb. Durch die Verknüpfung des Alltagsgegenstandes Smartphone mit einem sehr speziellen Produkt wie einer Schaltschrankkomponente, wird er an das Thema herangeführt und kann die nötige Akzeptanz entwickeln. Letztendlich beginnt die Digitalisierung im Kopf der Menschen und nicht in irgendwelchen Software-Programmen“, resümiert Dieter Wegener optimistisch. (jwz)